Seit mehr als hundert Jahren wird der Roman “Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne” wegen seiner lustvollen Darstellung kindlicher und weiblicher Sexualität kontrovers besprochen. Anonym publiziert und über viele Jahrzehnte dem österreichischen Schriftsteller Felix Salten zugeschrieben, wurde er zeitweise verboten und gleichzeitig als wienerische Literatur von Weltrang gefeiert. Der Film konfrontiert in einer ehemaligen Sargfabrik in Wien hundert Männer zwischen 16 und 99 Jahren mit Auszügen aus dem Werk. Und wie im richtigen Leben evoziert die Lektüre “anstößiger” Passagen auch am Filmset Erinnerungen, erotische Vorstellungen, aber auch Ablehnungsreaktionen, Distanzierungs- und Rechtfertigungsstrategien. Wir leben und lieben in einer Zeit, in der Sex mehr denn je allgegenwärtig ist, aber gleichzeitig auf ein moralisch hochgradig aufgerüstetes Umfeld trifft. In einem hochintelligent arrangierten und experimentierfreudigen Setting, das Analyse und Affekt, Reflexion und Intimität gleichermaßen ermöglicht, überschreiten die Männer die Grenzen des Streitraums Literatur und eröffnen uns und sich selbst Einblicke in den Kosmos von Erotik und Sexualität diesseits und jenseits von Männerfantasien. Ein Film wie ein Experiment im Erfahrungsraum zwischen Imagination und Identität, der das Tabu weder leugnet noch beschwört und deshalb viel erzählt.
Programm
Filmdetail
Mutzenbacher
100 Männer unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Schichten werden zu einem Casting geladen, bei dem sie aus den fiktiven Erinnerungen der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher vorlesen und über ihr eigenes Verhältnis zum Text sowie ihre individuellen sexuelle Erfahrungen berichten sollen. Bester Film, Encounters, Internationale Filmfestspiele Berlin 2022.